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2018

Fallbeispiel:
Aggression gegenüber Menschen

Viel zu oft werden problematische Verhaltensweisen bei Hunden trainiert, ohne vorher überhaupt die Ursache erforscht zu haben. Meiner Erfahrung nach wird viel zu schnell an den Symptomen gearbeitet  bzw. diese durch verschiedene Methoden unterdrückt – anstatt erst einmal überhaupt die Ursache zu kennen bzw. diese zu „bearbeiten“. Als veranschaulichendes Beispiel möchte ich von meinem ersten „echten“ Fall berichten.

Im Rahmen meiner Hundetrainerausbildung war ich für einige Tage bei der Tierakademie Scheuerhof, um verschiedene theoretische und praktische Themen zu vertiefen. Insgesamt waren wir acht angehende Hundetrainer:innen, die zusammen mit Viviane Theby und Michaela Hares trainieren durften.

Eine Frau aus dem Nachbarort bat die Trainerinnen der Tierakademie um Hilfe. Eine ihrer Hündinnen sei aggressiv und habe zum dritten Mal Brief- und Paketzusteller gebissen. Wir angehende Hundetrainer:innen erfuhren den Namen der Hündin, ihr Alter, ihre Rasse, dass sie auf einem Bauernhof lebt, diesen bewacht und seit dem dritten Beißvorfall einen Maulkorb trägt.

Bevor wir zum besagten Bauernhof und der „aggressiven Hündin“ aufbrachen, besprachen wir mögliche Ursachen des Aggressionsverhaltens. Schnell fielen Begriffe wie „Territorialverhalten“ und „Ressourcenverteidigung“ – wohl die ersten Gedanken bei den meisten, die von einem Wachhund hören, der drei Menschen auf dem eigenen Hof gebissen hat. Als Hundetrainer:in weiß man allerdings, dass das Thema Aggressionsverhalten bei Hunden nicht ganz so simpel ist. Bevor wir der Hündin also ein recht plausibles „Territorialverhalten“ unterstellten, machten wir eine sogenannte Differentialdiagnose. Wir gingen ohne vorschnelle Interpretationen objektiv sämtliche Diagnosen durch, die die Symptome bei besagter Hündin hervorrufen könnten. Insgesamt kamen wir auf über 20 mögliche Ursachen, wie beispielsweise:

  • Unsicherheit
  • Angst
  • Frust
  • Wut
  • Reaktion auf eine akute Bedrohung
  • Territorialverhalten
  • Ressourcenverteidigung
  • Hüteverhalten
  • Jagdverhalten
  • Schmerzen
  • Erkrankungen
  • Hormone
  • Genetik
  • Aufzucht
  • Sozialisation
  • Rasseeigenschaften
  • Trennungsangst
  • Erlerntes Verhalten
  • Fehlverknüpfungen
  • Überforderung
  • Unterforderung

Mit dieser Liste im Hinterkopf gingen wir sodann auf den Bauernhof und lernten die „aggressive Hündin“ kennen. Mit dem aufgezogenen Maulkorb rannte sie auf uns zu und begutachtete unsere kleine Gruppe – wirkte allerdings nicht aggressiv. Wir blieben ruhig stehen und besprachen uns mit der Halterin. Das Wichtigste war selbstverständlich die Sicherheit für alle Beteiligten (diese war durch den Maulkorb gegeben). Unsere erste Frage war, ob die Hündin einem Tierarzt vorgestellt und durchgecheckt wurde (hier gab es keine Auffälligkeiten). Dann ging es an die entscheidende Differentialdiagnose. Im Ausschlussverfahren hakten wir im Kopf all die genannten potentiellen Ursachen ab, die die Hündin zu ihrer Aggression und ihrem Beißverhalten verleitet haben könnte.

Durch gezielte Fragen und Diskussionen untereinander kamen wir zu der Erkenntnis, dass bei allen drei Beißvorfällen die Hündin kurze Zeit zuvor läufig gewesen war. Die Halterin erinnerte sich, dass die Hündin gerade zu der Zeit der Beißvorfälle begann, sogenannte Nester zu bauen und all ihre Spielsachen in ihr „Nest“ zu legen und diese förmlich zu bewachen. Da machte es bei uns allen Klick. Während ihrer Scheinträchtigkeit würde die Hündin wohl ihre imaginären Welpen beschützen wollen und hätte daher wohl die Menschen angegriffen, die zu der Zeit den Hof betraten. Das klang für uns alle sehr schlüssig, zumal die Hündin sonst fremde Besucher auf dem Hof duldete. Über diese mögliche Diagnose klärten wir die Halterin auf und ich war (mal wieder) erstaunt, wie es sich lohnt, ein gewisses Verhalten bei Hunden nicht zu vorschnell mit der naheliegendsten Ursache abzuhaken, sondern der Sache wirklich auf den Grund zu gehen.

Nur mit der richtigen Diagnose kann man auch gezielt Ursache und Symptome behandeln!

Im Folgenden berieten wir die Halterin bezüglich unterstützender Maßnahmen wie das Aufstellen eines Zaunes zur Straße und das Tragen eines passenden Maulkorbs. Damit die Hündin in Zukunft positiv auf fremde Menschen auf dem Hof reagiert, erklärten wir der Halterin das Prinzip der Gegenkonditionierung. Personen, die den Hof betreten, sollten von nun an mit etwas Positivem verknüpft werden. In vielen Durchgängen betraten wir auf unterschiedliche Art und Weise den Hof, während die Halterin in dem Moment, wenn die Hündin uns erblickte, hochwertig fütterte. So konnte die Hündin nach und nach eine positive Verknüpfung zu fremden Menschen aufbauen, sodass sie am Ende des Trainings bei dem Betreten des Hofes einer fremden Person nicht „aggressiv“ wurde, sondern sich nach ihrem Leckerli umschaute. Die Halterin war sowohl froh als auch erstaunt, dass wir ihre „Problem-Hündin“ so schnell analysieren und trainieren konnten – und das ohne Einschüchterung, Druck oder Gewalt. Ihre Hausaufgabe ist es nun, weiterhin Besucher positiv zu verknüpfen, sodass es nicht mehr zu Aggressionsverhalten gegenüber Menschen kommen kann.

Mir hat diese Beratungs- und Trainingseinheit wieder einmal gezeigt, wie wichtig es ist, eine Situation objektiv zu analysieren – und wie schnell man ein Verhalten durch gezieltes Training beeinflussen kann …

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